"Stille"



Ich war todmüde, hatte Kopfschmerzen und war deprimiert. Eine weitere kleine Hoffnung auf Zuneigung war zerplatzt wie eine Seifenblase bei der Berührung eines Nagelbretts. Diese Mischung aus unangenehmen Gefühlen erzeugte in mir einen unheimlichen Schub von Kreativität, die ich nicht kanalisieren konnte. Weder malen noch schreiben war das Richtige um mich abzureagieren. Ich wollte etwas plastisches schaffen, eine Plastik oder ähnliches. Doch dafür fehlte es mir an Material. Ich überlegte ob ich vielleicht auf den Teppich scheißen sollte, um aus meinen exkrementen eine skulptur zu schaffen. Ich entschied mich dagegen und ging stattdessen lieber auf die Toilette. Zum Glück - ich hatte Dünnschiß. So saß ich eine halbe Stunde und ließ braune Soße in die weiße Schüssel laufen. Ich lauschte auf die Stille und entdeckte Geräusche. Der Lüfter surrte, die Heizung blubberte.
Mir wurde klar, daß es in dieser Stadt wohl nirgens absolute Stille gab. Und mir fiel der Ort ein von dem ich kürzlich im Radio gehört hatte. Der "Raum der Stille". Absolut still sollte es dort sein - eine Zuflucht im Lärm der Großstadt. Ich beschloß diesen Raum aufzusuchen.
So stand ich auf, spülte und fuhr mit meinem Fahrrad durch die kalte Nacht dem unbekannten Ort entgegen. Ich wußte nichts über ihn, wahrscheinlich war er doch um diese Zeit nicht geöffnet. Vielleicht existierte er garnicht. Doch all diese Ungewissheit störte mich nicht.
Die kalte Nachtluft beruhigte mich und sehr gelassen erreichte ich den "Raum der Stille". Einen Moment verharrte ich vor der geschlossenen Tür, um mir die Öffnungszeiten einzuprägen. Dann wendete ich mein Rad.

Nun sitze ich im Café "Einstein" und trinke Tee. Ich bin seltsam entspannt und lausche den Geräuschen des Alltags.



PS: Der "Raum der Stille" befindet sich in einem Nebengebäude des Brandenburger Tors. Geöffnet täglich von 10 bis 18 Uhr.